In Hessen ist etwas passiert, das in der deutschen Bildungspolitik lange undenkbar schien: Der größte islamische Verband, die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion hat vor Gericht verloren. Sie wollte verhindern, dass das Land den islamischen Unterricht in eigener Regie organisiert, und wieder ihre Rolle als offizieller Träger des bekenntnisorientierten Unterrichts zurückerhält. Das Gericht lehnte ab. Das ist keine kleine juristische Fußnote, sondern ein politisches Signal mit Wucht: Der Staat kann, wenn er will, religiöse Lobbystrukturen aus dem Unterricht drängen und Hessen hat genau das getan. Danke.
Damit klar ist, wer hier gemeint ist: DITIB ist nicht einfach irgendein muslimischer Dachverband, sondern der direkte Auslandsarm der türkischen Religionsbehörde Diyanet. Vorstandsposten werden oft mit Beamten aus Ankara besetzt, die im Auftrag des türkischen Staates arbeiten. Politische Einflussnahme, Predigtvorgaben aus der Türkei, Loyalitätserwartung… das alles war nicht nur ein vages Gerücht, sondern in Berichten und Analysen dokumentiert. Für Hessen war das ein Problem: Das Grundgesetz erlaubt bekenntnisorientierten Religionsunterricht nur mit Religionsgemeinschaften, die unabhängig vom Staat sind. Genau diese Unabhängigkeit konnte DITIB nicht glaubhaft machen. 2020 zog das Land die Reißleine, kündigte die Kooperation und setzte auf ein eigenes Modell: Islamkundeunterricht in staatlicher Verantwortung, religionskundlich statt bekenntnisorientiert. Die Klage von DITIB dagegen war einkalkuliert und ist jetzt gescheitert.
Der Unterschied ist entscheidend:
Bekenntnisorientierter Unterricht bedeutet, dass eine Religionsgemeinschaft ihre Lehre aus ihrer Sicht an Schüler weitergibt, im regulären Stundenplan, benotet, mit Inhalten, die im Kern Teil der Glaubensausübung sind.
Religionskundlicher Unterricht dagegen ist staatlich verantwortet, gibt Überblick über Religionen und Weltanschauungen, vergleicht, kontextualisiert und missioniert nicht. Es ist der Unterschied zwischen „wir erklären dir unseren Glauben“ und „wir erklären dir, was es über Religion zu wissen gibt“.
Viele Ostdeutsche, gerade aus DDR-geprägten Bundesländern (wie ich zum Beispiel),, kennen das zweite Modell als Normalfall. In der DDR gab es keinen bekenntnisorientierten Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Religiöse Bildung fand in den Gemeinden statt. Nach der Wiedervereinigung mussten die neuen Länder entscheiden, ob sie das westdeutsche Modell aus Art. 7 GG übernehmen. Einige taten es, andere, wie Berlin und Brandenburg, blieben bei einer freiwilligen oder religionskundlichen Lösung. Trotzdem gibt es heute in weiten Teilen Deutschlands immer noch bekenntnisorientierten christlichen Unterricht als ordentliches Lehrfach; verpflichtend im Sinne von „du musst entweder Religion oder ein Ersatzfach wie Ethik belegen“.
Der Fall Hessen zeigt, dass sich ein Land bewusst aus so einer Struktur lösen kann, wenn es die verfassungsrechtlichen Gründe dafür hat. Und ja, das war von Anfang an der Plan. Die Zweifel an der Unabhängigkeit von DITIB gab es lange, 2020 zog man den Stecker, und das neue Modell wurde so konstruiert, dass es juristisch belastbar ist, selbst wenn DITIB bis vor das Bundesverfassungsgericht zieht.
Was heißt das für Berlin? Hier ist die Lage anders: Der islamische Religionsunterricht wird hauptsächlich von der Islamischen Föderation Berlin (IFB) getragen. Das ist ein Dachverband lokaler Moscheevereine, ohne direkte staatliche Anbindung wie bei DITIB, aber durchaus konservativ geprägt und in der Vergangenheit mit Nähe zu Milli Görüş in Verbindung gebracht. Juristisch ist das heikler: Ohne eindeutigen Beweis für staatliche Einflussnahme von außen gibt es keine verfassungsrechtliche Grundlage, den IFB aus dem Unterricht zu drängen. Politisch wäre es trotzdem möglich, das Modell zu ändern… nur eben nicht ohne massiven Widerstand und nicht ohne Art. 7 GG zumindest auszutricksen oder zu ändern.
Und hier kommen wir zur eigentlichen Zukunftsfrage: Ist bekenntnisorientierter Religionsunterricht in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft überhaupt noch zeitgemäß? Wer eine zukunftsorientierte Bildungspolitik will, muss die Antwort eigentlich kennen: nein. Staatliche Schulen sollen Wissen vermitteln, kritisches Denken fördern und keine religiöse Sozialisation betreiben. Wenn Religion ein zentraler Teil des Lebens einer Familie ist, kann sie in der Gemeinde, Moschee, Kirche oder Synagoge vermittelt werden aber nicht als staatlich organisiertes Lehrfach.
Der Widerstand dagegen ist kein göttlicher Auftrag, sondern reine Interessenpolitik. Kirchen und religiöse Verbände verteidigen diesen Unterricht, weil er ihnen direkten Zugang zu jungen Menschen verschafft, ihre Strukturen und Jobs sichert und ihnen kulturelles Territorium garantiert. Wer wirklich glaubt, die eigene Religion sei die absolute Wahrheit, müsste keine Angst vor neutraler Religionskunde haben, denn die Wahrheit würde sich ja angeblich von selbst durchsetzen. Dass man trotzdem klammert, zeigt: Es geht um Marktanteile im Kopf, nicht um Gott.
Hessen hat mit dem DITIB-Exit einen Präzedenzfall gesetzt. Ob andere Länder folgen, hängt nicht nur vom politischen Willen ab, sondern auch von der Bereitschaft, sich mit mächtigen religiösen Akteuren anzulegen; christlich wie muslimisch. Das wäre nicht einfach, es würde Geld kosten, und es gäbe lautstarken Protest. Aber es wäre auch ein Schritt in Richtung einer Schule, die für Bildung da ist und nicht für Glaubenspflege. Die Frage ist, wie lange wir uns noch den Luxus leisten, Religion im staatlichen Stundenplan als Machtspielplatz für Organisationen zu betreiben.
Zusatzinfo: Religionsunterricht in Deutschland – kurz erklärt
Bekenntnisorientiert
– Unterricht aus Sicht einer Religion, von Religionsgemeinschaft getragen
– Teil der Glaubensausübung (Beten, Lehre, religiöse Praxis)
– Ordentliches Lehrfach laut Art. 7 GG in den meisten Bundesländern
– Beispiel: Katholischer Religionsunterricht in Bayern, Islamunterricht der IFB in Berlin
Religionskundlich
– Unterricht über Religion(en), staatlich verantwortet
– Vergleichend, plural, ohne Mission
– Kein Teil der Glaubensausübung
– Beispiel: Islamkunde in Hessen seit 2020
Hessen vs. Berlin
Hessen | Berlin |
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Islamkunde in staatlicher Regie, religionskundlich | Islamunterricht bekenntnisorientiert, Träger IFB |
Kooperation mit DITIB 2020 beendet | IFB seit 2001 als Religionsgemeinschaft anerkannt |
Klage DITIB gescheitert | Juristisch schwieriger, da keine direkte Staatsanbindung |