Natürlich ist auch das persönlich relevant, schließlich bin ich Mitgründer des Zugs der Liebe. Und in Aachen entscheidet sich gerade, ob Tanzdemonstrationen noch unter das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit fallen – oder ob sie künftig wie Karnevalsumzüge behandelt werden. Der Streit um die Krachparade ist mehr als eine lokale Posse, er könnte die Bedingungen für Subkultur bundesweit verändern.
Am 6. September sollte die fünfte Krachparade durch Aachen ziehen. Geplant war eine Tanzdemonstration für kulturelle Freiräume, mit Forderungen wie einer Senkung der Mehrwertsteuer für Clubs, der Sonntagsöffnung von Kiosken und dem Wegfall der Sperrstunde in Aachen. Doch die Polizei hat die Anmeldung als Versammlung nicht bestätigt. Ihre Begründung: Zu wenige Redebeiträge, zu wenig erkennbare Meinung, zu viel Musik und Tanz. Mit anderen Worten: Party statt Politik. Versammlungsleiter Simon Jentgens sieht das anders und hat per Eilantrag Klage beim Verwaltungsgericht eingereicht.
Art. 8 Grundgesetz trifft Subkultur
Juristisch wirkt die Sache zunächst klar: Artikel 8 des Grundgesetzes garantiert allen Deutschen das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Demonstrationen gehören selbstverständlich dazu. Aber wann genau ist etwas eine Demonstration? Im Fall der Krachparade heißt das: Reicht eine politische Botschaft, die über Musik, Tanz und Redebeiträge vermittelt wird, um unter diesen Schutz zu fallen?
Die Polizei Aachen sagt nein. In einem Statement verweist sie auf Erfahrungen aus den Vorjahren: Elemente der Meinungskundgabe seien „kaum feststellbar“ gewesen, der Partycharakter habe überwogen. Dass es in diesem Jahr elf Redebeiträge und eine Abschlusskundgebung geben soll, reicht ihr nicht. Für die Polizei steht das Schwergewicht auf Unterhaltung.
Der Loveparade-Schatten
Schon 2001 musste das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob die Loveparade eine Versammlung im Sinne des Grundgesetzes ist. Das Urteil war ambivalent: Musik und Tanz können politische Meinungsäußerung sein, wenn sie bewusst eingesetzt werden, um auf die öffentliche Meinungsbildung einzuwirken. Aber eine Veranstaltung wird nicht automatisch zur Versammlung, nur weil zwischendurch auch Meinung geäußert wird. Für die Loveparade entschieden die Richter damals, dass Unterhaltung im Vordergrund stand.
Genau an diesem Punkt reibt sich jetzt die Krachparade: Ist sie ein Straßenrave mit politischen Nebengeräuschen? Oder eine Demonstration, die Musik und Tanz als Ausdrucksformen politischer Positionen nutzt?
Was weniger bekannt ist ist:
Es gab einen bahnbrechenden Präzedenzfall: die Fuckparade.
Das Relevante auf einen Blick
- 2001 wollten die Veranstalter die Fuckparade als Gegenveranstaltung zur Love Parade anmelden – als politisch motivierte Demonstration. Die Behörden lehnten ab, ebenso wie das Bundesverfassungsgericht im Eilverfahren. Man stelle sich vor: mehr als 10 000 Teilnehmende, 40–50 Techno-Wagen, aber keine Redebeiträge – die Behörden sahen sie als reine Spaßveranstaltung.
- 2007 kam es zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts: Die Fuckparade sei doch eine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes, weil „nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, dass sie nach ihrem Gesamtgepräge für Außenstehende auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet war“. Damit bekam sie offiziell den Demonstrationsstatus.
Warum das für die Krachparade so spannend ist
- Parallele Struktur: Tanz, Musik, bunte Wagen, wenig klassische Redebeiträge – das alles erinnert stark an die Krachparade. Der Streit dreht sich also genau darum, was politischer Kern ist und was “nur Party” ist.
- Juristisches Momentum: Der Fuckparade-Fall zeigt, dass Tanzdemos durchaus als politische Versammlungen anerkannt werden können – wenn der Gesamtzusammenhang stimmt. Das stärkt die Argumentation der Krachparade, bei der ja auch Redebeiträge, inhaltliche Forderungen und klare politische Ziele vorhanden sind.
- Richtig fairer Nerdbonus: Bürokraten schauen oft auf Transparent oder Redebeitrag – das BVerwG 2007 aber erkannte: Auch wenn Musik und Tanz im Vordergrund stehen, kann eine politische Botschaft transportiert werden, wenn das Gesamtbild stimmt.
Politischer Kern oder bunter Lärm?
Für Jentgens und sein Team ist die Sache eindeutig. Die Krachparade fordere kulturelle Freiräume, die Anerkennung von Club- und Subkultur als Teil des städtischen Lebens und mehr Raum für junge Menschen, sich selbstbestimmt auszudrücken. Musik und Tanz seien nicht Beiwerk, sondern bewusst gewählte Mittel der Meinungsäußerung. „Dass sie bunt, laut und fröhlich ist, macht sie nicht weniger politisch“, sagt Jentgens.
Die Polizei kontert, dass das Ganze wie ein Karnevalszug wirke. Was sich hier zeigt, ist ein tiefer Graben im Verständnis von Politik. Für Behörden ist Meinung offenbar erst dann erkennbar, wenn sie auf Transparenten steht oder in klaren Redebeiträgen formuliert wird. Dass Subkultur ihre Botschaften über Sound, Körper und kollektives Erleben ausdrückt, passt nicht in dieses Raster. Nun stelle man sich eine Frontaufnahme vor:
Die Karl Marx Allee. Ein großes Banner. BERLIN NAZI FREI und dahinter 20.000 Menschen. Als ob das keine klare Aussage wäre. Anyway…
Geld, Kontrolle, Signalwirkung
Praktisch hätte die Einstufung als Veranstaltung statt Versammlung weitreichende Konsequenzen. Statt polizeilichem Schutz müssten die Veranstalter ein eigenes Sicherheitskonzept vorlegen und selbst finanzieren. Und eine Demo zu machen ist jetzt schon extrem teuer. Will man es auf die Berliner Art, also mit Musike und nicht nur verbrannte Erde für andere hinterlassen, kommt man um Sanidienst, Funkgeräte, Toiletten nicht drumherum. Und schon braucht man ein paar tausend Euro.
Noch entscheidender ist die Signalwirkung: Wenn Aachen durchkommt, könnte das als Blaupause dienen, um andere Tanzdemos aus dem Versammlungsrecht zu drängen.
Das hieße: Jede künftige Parade, die Clubkultur politisch sichtbar machen will, könnte als Party abgetan werden. Für Initiativen wie den Zug der Liebe wäre das ein Schlag ins Gesicht. Denn ihre Stärke liegt gerade darin, Politik über kollektiven Klang, Tanz und Sichtbarkeit auf die Straße zu bringen.
Unterstützung aus der Politik
Anders als die Polizei sehen Teile der Aachener Politik die Krachparade eindeutig als politische Versammlung. Vertreter der SPD und der Linken im Kreispolizeibeirat betonen, die Ziele der Parade seien zutiefst politisch. „Wenn die Polizei das nicht anerkennt, verkennt sie die gesellschaftliche Bedeutung dieser Bewegung“, heißt es in einer Stellungnahme.
Das Urteil als Weichenstellung
Das Verwaltungsgericht Aachen entscheidet nun im Eilverfahren, ob die Krachparade am 6. September als Versammlung stattfinden darf. Die Hauptsache wird später verhandelt. Für die Szene ist schon dieses Zwischenurteil entscheidend: Wird Musik als Form von Protest anerkannt – oder nur als Hintergrundrauschen?
Wie auch immer das Urteil ausfällt: Es geht nicht nur um eine Parade in einer mittelgroßen Stadt. Es geht um die Frage, ob sich die politische Meinungsfreiheit auch in Formen artikulieren darf, die nicht nach klassischer Demo aussehen. Zwischen Loveparade-Urteil und heutigen Tanzdemos liegt die Erkenntnis: Politik kann auch tanzen.
Wenn die Krachparade verliert, könnte das den Druck auf ähnliche Formate bundesweit erhöhen. Wenn sie gewinnt, stärkt das die Position der Subkultur. In jedem Fall zeigt der Streit: Musik auf der Straße ist längst nicht nur Party. Sie ist ein politisches Feld – und genau deshalb umkämpft.
Wie stehen die Chancen?
Im Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht Aachen könnte es eng werden. Gerichte entscheiden bei solchen Anträgen oft konservativ und stützen sich stark auf die Dokumentation der Polizei. Die hat in den vergangenen Jahren immer wieder festgehalten, dass der Partycharakter überwiege und politische Botschaften nach außen kaum sichtbar gewesen seien. Insofern liegen die Chancen, dass die Krachparade kurzfristig den vollen Demo-Status zugesprochen bekommt, eher knapp unter fünfzig Prozent.
Mittelfristig, im Hauptsacheverfahren, sieht es jedoch anders aus. Mit elf angemeldeten Redebeiträgen, einer Abschlusskundgebung und klar formulierten Forderungen – von der Senkung der Mehrwertsteuer für Clubs bis zum Wegfall der Sperrstunde – hat die Krachparade gute Argumente, die über bloße Unterhaltung hinausgehen. Und spätestens seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Fuckparade 2007 ist klar: Auch Musik- und Tanzveranstaltungen können politische Versammlungen sein, wenn ihr Gesamtgepräge auf Meinungsbildung zielt. Genau hier setzt die Argumentation der Aachener Veranstalter an.
Kurzfristig also wacklig, langfristig mit guten Karten: Die Krachparade könnte zum nächsten Präzedenzfall werden, der klärt, ob Politik auch tanzend auf die Straße darf.