Autor: Jessica Schmidt
Als Journalistin widmet sich Jessica Schmidt den Themen der Club- und Subkultur. Zudem moderiert und produziert sie den Safer-Use- Podcast NACHTSCHATTEN - ein Kooperationsprojekt u.a. von SONAR - Safer Nightlife Berlin. Neben ihrer Tätigkeit als Moderatorin, Autorin und Kommunikationsmanagerin war Jessica Schmidt auch für die Pressearbeit diverser Club- und Kulturformate wie z.B. der Nachhaltigkeitsinitiarive CLUBTOPIA verantwortlich. Als Teil der DRAUSSENSTADT-Jury hat sie zudem einen detaillierten Blick auf die Förderlandschaft der Hauptstadt. Gemeinsam mit Zoe Uellendahl betreibt sie das Content-Projekt TRESENTALK, das im Rahmen des Publikumstags der STADT NACH ACHT am 18.November diverse Paneltalks in der Renate moderiert und kuratiert.
„Das Stadtbild verändert sich“
Mit diesem Satz bietet Merz Feindbilder statt Lösungen und lenkt von Ursachen auf Symptome. Nur eine rückwärtsgewandte Politik macht nicht Armut, Drogen, Wohnungsnot oder Integrationslücken zum Thema, sondern Menschen, die sie sichtbar machen. Die Obdachlosen am Kotti werden zur Bedrohung erklärt, nicht die Wohnungspolitik. Die Flucht wird problematisiert, nicht der Krieg. Statt sich zu fragen, warum Wohnraum unbezahlbar, das Klima instabil oder das Vertrauen in die Politik im Keller ist, zeigen sie auf Menschen, die ohnehin wenig Schutz haben. Merz verurteilt Andersartigkeit und behauptet, sie sei das Problem.
Aber: Keine Wohnung wird dadurch bezahlbarer. Keine Rente sicherer. Kein Arbeitsplatz stabiler.
Sichtbarkeit abseits vom konservativen Konformismus wird zur Störung erklärt Diese Entwicklung trifft nicht nur das „Stadtbild“, sondern auch die Clubkultur – jene Orte, die seit Jahrzehnten als Zufluchtsraum für Vielfalt, kreative Entfaltung und nonkonforme Lebensentwürfe dienen. Clubs waren immer mehr als Tanzflächen. Sie waren Laboratorien sozialer Utopien, in denen Körper und Identitäten neu gedacht wurden.
Was die „Säuberung des Stadtbilds“ auf der Straße ist, ist für clubkulturelle Themen der Shadowban im Netz. Beides funktioniert nach demselben Prinzip: Man entfernt, was stört – nicht, weil es gefährlich wäre, sondern weil es nicht der angestrebten Konformität entspricht.
Aus dem Social-Media-Feeds verschwinden so queere, sexpositive und harm-reduktive Inhalte unter dem Deckmantel von „Community Guidelines“ – während die rechte Hetze ungehindert weiterläuft.
Das Label ‚nicht jugendfrei‘ wird zur Zensur-Plombe.Formal klingt es wie Jugendschutz; funktional ist es ein Maulkorb für alles, was nicht ins konservative Bild passt. Mit einem Klick wird entschieden, welche Lebensentwürfe als „akzeptabel“ gelten – und welche gelöscht werden.
Sichtbarkeit als Störung
Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist das Berliner Kollektiv GEGEN, bekannt für seine queeren, sexpositiven Partys, auf denen Diversität nicht nur existiert, sondern gefeiert wird. Im August wurden ihre Accounts gelöscht – ohne Vorwarnung, ohne Möglichkeit zur Verteidigung. Der offizielle Grund: „Menschenhandel und -ausbeutung.“ Ein Vorwurf so absurd, dass man lachen müsste, wäre der Verlust der Accounts für das Kollektiv nicht so traurig.
Löschungen dieser Art sind kein Einzelfall. Sie folgen einem Muster: vage Anschuldigungen, keine Transparenz, keine Chance auf Widerspruch. Was bleibt, ist Schweigen der Plattformbetreibenden– und ein gelöschter Account.
Fabio von GEGEN beschreibt die Folgen so:
„GEGEN war nie nur eine Party. Es ist ein Kollektiv, das sichere Räume schafft, gegenseitige Fürsorge fördert und gesellschaftliche Normen herausfordert. Unsere Seiten sind ein Treffpunkt für queere, trans, nicht-binäre, migrantische und sexpositive Menschen. Viele von ihnen haben offline keinen sicheren Ort.
Wenn unsere Accounts verschwinden, verlieren ganze Gemeinschaften ihr digitales Zuhause. Es geht nicht nur um den Verlust eines Kommunikationskanals, sondern um das Auslöschen von Sichtbarkeit, Geschichte und kollektiver Erinnerung.
Für kleine, unabhängige Kollektive ist das verheerend. Und in einer Zeit, in der anti-queere Rhetorik und rechte Bewegungen wieder lauter werden, wird diese digitale Unsichtbarkeit Teil desselben Systems von Schweigen und Kontrolle.“
Was Fabio beschreibt, ist mehr als nur die Sperrung eines Profils – es ist die algorithmische Variante dessen, was Merz & Co. auf der politischen Bühne zur Säuberung des Stadtbilds tun: Statt Vielfalt zu fördern und Chancen zu nutzen, wird sie als Bedrohung dargestellt. Regressiv statt progressiv bestimmt wieder den Zeitgeist – fragen sie ihre Großeltern. Am Ende gilt nicht mehr, wer laut ist, sondern wer „passt“.

Zensur, Algorithmen und Angst
Fabio sagt weiter:
„Plattformen wie Meta behaupten, sie würden nur bei ‚Richtlinienverstößen‘ eingreifen. Aber diese Richtlinien sind alles andere als neutral. Sie spiegeln ein moralisches und kulturelles Bias wider, das in der heteronormativen und prüden Logik verwurzelt ist, wo queere Körper, Sexualität und Lust als ‚unsicher‘ gelten, während Hassrede und Desinformation oft ungehindert zirkulieren.
Wenn queere, körperpositive oder harm-reduktive Inhalte zensiert werden, während Hass und Extremismus gedeihen, zeigt das eine gefährliche Doppelmoral. Es macht deutlich, dass Queerness noch immer als Bedrohung behandelt wird, nicht als Teil des öffentlichen Lebens.
Worum es hier wirklich geht, ist nicht nur Meinungsfreiheit, sondern das Recht auf Existenz im digitalen Raum.
Wenn Plattformen entscheiden, welche Körper, Ästhetiken oder Identitäten ‚akzeptabel‘ sind, erleben wir eine neue Form der kulturellen Auslöschung, eine, die sich hinter Algorithmen und ‚Community Standards‘ versteckt.“
Fabios Worte treffen den Kern. In der Clubkultur wird das besonders sichtbar, weil sie schon immer das war, was Politik gern verdrängt: roh, direkt, unbequem – und authentisch.
Doch was online beginnt, hat längst reale Konsequenzen. Die Räume der Vielfalt werden weniger. Der älteste queere Club Deutschlands, das SchwuZ, hat sein Ende verkündet – weil ein Investor fehlt. Denn während große Marken sich früher beim CSD mit Regenbogenflaggen schmückten und Marketingbudget vorhanden war, ziehen sich Investoren heute zurück. Nicht, weil es plötzlich an queeren Events mangelt, sondern weil der Wind konservativer weht. Vielfalt verkauft sich eben nur, solange sie ungefährlich bleibt.
Das ist die bittere Ironie unserer Zeit: Wir leben in einer Gesellschaft, die sich tolerant nennt, solange Vielfalt dekorativ bleibt – in Kampagnen, Spots und Imagebroschüren. Aber wenn sie real wird, laut wird, edgy wird – Sex, Drogen und Meinung hat – dann wird Diversität zur Störung erklärt.
Meinungsfreiheit bedeutet nicht nur, sagen zu dürfen, was man denkt. Sie bedeutet auch, existieren zu dürfen, wie man ist. Wer sichtbar wird, riskiert, zum Feindbild erklärt zu werden – ob durch politische Rhetorik, die Vielfalt zur „Störung“ macht, oder durch Algorithmen, die queere und sexpositive Inhalte ins digitale Off schieben. Shadowbans, Sperrungen und moralische Labels wie „nicht jugendfrei“ schaffen eine Atmosphäre der Selbstzensur: Man überlegt zweimal, was man zeigt, sagt, teilt.
Das ist nicht demokratisch – denn eine Demokratie lebt von Reibung, Vielfalt und Widerspruch. Wenn Sichtbarkeit genommen oder zur Gefahr wird, verliert die Gesellschaft nicht nur Stimmen, sondern ihre Fähigkeit, sich selbst ehrlich im Spiegel zu sehen.





